Hatsumi_Masaaki_Soke

Tenguchi


Für jeden kommt die Zeit der Besinnung. Alle 10 Jahre, so sagt man, sollte man sich zurückziehen und nur für sich selbst lernen und trainieren. In früheren Tagen verließ man die Welt der Menschen, verschwand in den Bergen und lernte von der Natur. Heutzutage ist es nicht ganz so einfach, da der Beruf, die Familie oder andere Wichtigkeiten einen meist hindern, längere Zeit für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Sensei Hatsumi sagt von sich jedoch, er habe seine Erleuchtung im Dschungel der Großstadt erfahren, in dem es zu jeder Erscheinung der Natur ein Gegenstück gibt. Bis vor einem Jahr war mir nicht ganz klar, was er meinte.

Als ich ein paar Tage im Voralpenland mit Wanderungen verbrachte, führte mich mein Weg über eine Wiese auf der Kühe grasten und mir den Weg versperrten. Wir näherten uns diesen meist friedlichen Tieren und meine Begleiterin erzählte mir, sie wäre in ihrem letzten Urlaub von einer Kuh verfolgt worden, die gegen ihre Erwartungen sehr aggressiv auf sie reagierte. Diese Worte und die genaue Ausmalung erschreckten mich zunächst, jedoch schritt ich unbeirrt und voll Kampfeslust durch die Herde, die mir angesichts ihrer Trägheit überraschend schnell den Weg frei gab. Hinter mir schloss sich der entstandene Tunnel und versperrte meiner Begleiterin, die nur mit Mühe und voller Angst durchkam, den Weg.

Nachdem wir zurück im Ort waren und durch die Engen Gassen an einer Kneipe vorbeikamen, trat eine Gruppe Skinheads auf die Straße und stellte sich uns mit Alkoholgeröteten Gesichtern recht belustigt in den Weg. Wieder durchfuhren mich Gedanken an Gewalt und Tod, und erneut ließ ich sie dem Kampfgeist weichen. Ohne selbst zu verstehen warum, teilte sich die Gruppe und ich schritt geradewegs hindurch. In diesem Moment wurde mir bewusst, was die Worte von Soke bedeuteten.


An Ostern zog ich mich ins Riesengebirge zurück. Wanderungen sind auch, oder gerade im Winter sehr belebend. Zumal man bedenkt, dass die Götter einem genügend Steine in den Weg legen können: meterhohen Schnee, der den Aufstieg behindert, Wegweiser, die nur auf weiße Flächen ohne erkennbare Pfade zeigen und zudem in einer unbekannten Sprache geschrieben sind und eine Stille die das Herz fast zerreißt. Als ich den Kampf gewann und auf dem Gipfel angelangt war, entsann ich mich der Worte meines Lehrers an unserem ersten Winteryonpokai. „Die Flüsse reinigen die Berge, lassen die Gedanken im Meer verschwinden und der Regen schließt den Kreis.“ In diesem Moment wurde mir meine eigene Unzulänglichkeit bewusst. Ich erhielt damals den Auftrag, unser Mondo aufzuschreiben und allen anderen zugänglich zu machen. Bis heute war es mir unmöglich dem nachzukommen. Wie soll ich etwas weitergeben, das mir selbst noch verborgen ist? Und wie kann ich mir anmaßen, die Verantwortung auf mich nehmen, andere zu führen, wenn ich selbst noch nach all den Jahren unter der liebevollen Hand meines Lehrers das gleiche Kind mit den selben Fehlern geblieben bin. Mir war als müsste ich im Boden versinken und für immer verschwinden. Es fiel mir schwer, der Versuchung zu wiederstehen, über die nahe Grenze zu gehen und die Welt zurückzulassen.

Als der fallende Schnee meine Augen bedeckte wurde mir klar, was es zu tun galt. Für mich ist nach wie vor der Dojo ein Tempel der Natur und der Menschlichkeit. Wie bei allem anderen stirbt er, wenn er sich nicht mehr Verändert. Der Hôkyô Zanmai Dojo ist nur ein Spiegel des Sandokai Dojo. Ich habe mir in diesem Moment mit einem Herzen voller Reue geschworen, die Trägheit meiner Seele zu durchschneiden und dem Weg mit all meiner Kraft zu folgen. Bevor ich nicht selbst genug Kraft und Wahrheit in mir trage ist es ein unverzeihliches Verbrechen andere Menschen führen zu wollen. Es ist kein Versagen, nur eine weitere schmerzliche Erfahrung auf dem Weg, die mir hilft, nicht stehenzubleiben.


Ich danke meinem wundervollen Lehrer Armin Dörfler für seine Güte, sein Verständnis, seine Liebe und die nicht immer einfache Führung, die er mir zuteil werden ließ.

Dirk Ballbach